Als ich gestern abend nach Hause kam, stand vor dem Haus wieder einmal eine komplette Wohnungseinrichtung auf der Straße. Achtlos in den Regen gestellt, abholbereit für den Sperrmüll. Teppiche, Möbel, Vorhänge, Geschirr - einfach alles, was sich so in einer Wohnung befindet. Darunter auch einige persönliche Papiere wie Notizen und Briefumschläge.
Das ist die Wohnungseinrichtung von Frau K.
Frau K. wohnte im Erdgeschoss dieses Hauses, als ich vor 12 Jahren (fuck ist das wirklich schon so lange her?) hier einzog. Sie war eine auf den ersten Blick harte, mürrische alte Frau, von großer Statur und stets auf die korrekte Einhaltung der Hausordnung bedacht. Ich wohnte noch keine drei Wochen im Haus, als ich schon die erste handgeschriebene Beschwerde im Briefkasten hatte, dass sich meine "abendlichen Besucher" doch bitte ordentlich im Treppenhaus zu verhalten hätten, und ausserdem hätten sie sich ihr gegenüber ungebührlich und frech verhalten. Anscheinend war H. mit ihr um kurz nach sieben aneinandergeraten, weil er an der abgeschlossenen Haustür von aussen rüttelte, was direkt Frau K. auf den Plan, bzw. in diesem Fall ans Fenster, rief, die von ihm erstmal Informationen einforderte, wer er denn sei und was er denn wolle. H. hatte ihr wohl daraufhin zu verstehen gegeben, dass sie sich mal um ihren eigenen Kram kümmern möchte, und einen Tag später hatte ich ihren Beschwerdebrief. Wenigstens hatte sie Eier - mit ihrem eigenen Namen unterschrieben und an mich direkt gerichtet, und nicht über die Wohnungsbaugesellschaft (da habe ich mittlerweile auch anderes erlebt).
Im Laufe meines ersten Jahres hier im Haus erfuhr ich so nach und nach von den anderen Nachbarn, dass sich jeder im Haus und den Nachbarshäusern schon einmal mit Frau K. gezofft hatte - in einigen Fällen ging das wohl bis vor einen Schiedsmann. Weia. Da bin ich ja in einem entspannten Haus gelandet, dachte ich mir. Jedenfalls rieten mir alle Nachbarn unabhängig von einander, mich nicht von Frau K. verrückt machen zu lassen, und sie wenn möglich zu ignorieren - so wie sie es wohl schon seit X Jahren machten. Das muss man sich mal vorstellen - hier leben Menschen seit über 30, 40 Jahren in einem Mietshaus zusammen und eine davon ist eine Persona Non Grata, geschnitten von den anderen, verbittert und biestig in der Wohnung auf Fehler der anderen lauernd.
Eines Tages erzählte mir Herr P. aus der anderen Erdgeschosswohnung, warum das so war. In den 50ern wohnte in der Erdgeschosswohnung ein Herr L. zusammen mit seiner Frau. Herr L. lernte irgendwie Frau K. kennen, und anscheinend hatten die beiden ein Verhältnis zusammen. Anscheinend gaben sie sich auch nicht allzugroße Mühe, das zu verheimlichen, und so kam wohl L.s Frau dahinter. Voller Kummer stürzte sie sich aus dem obersten Fenster des Treppenhauses auf den Bürgersteig vor dem Haus, und obwohl das Haus nur drei Stockwerke hoch ist, reichte das für eine tötliche Verletzung.
Nach einer dem Rest des Hauses unangemessen kurz erscheinenden Trauerphase zog Frau K. bei Herr P. ein. Ob sie auch heirateten, daran erinnere ich mich nicht mehr, oder Herr P. erzählte es nicht. Jedenfalls war seit diesem Zeitpunkt, fast vor 40, 50 Jahren, Frau K.vom Rest des Hauses nicht gut gelitten.
Es schwelte also ein kalter Krieg in diesem Haus, und ich war wohl seit Jahrzehnten der erste "Neue", der in das Haus kam. Wow.
Mit Frau K. hatte ich, abgesehen von Lappalien, keine Probleme. Ich behandelte sie höflich, grüßte sie freundlich wenn immer ich sie sah und machte auch ab und zu Smalltalk mit ihr, wobei das nie über "Hallo", "Schönes Wetter" und so hinausging. Im Nachhinein denke ich mir, es wäre bestimmt mal interessant gewesen, ihre Geschichte des Hauses zu hören.
Jahre später, Weihnachtszeit. Frau K. bekommt mittlerweile Essen auf Rädern. Herr P. ist tot. Am Weihnachtsabend gehe ich aus dem Haus und sehe, dass bei Frau K. Licht im Bad brennt. Ich registriere ich das, mache mir aber keine Gedanken. Als ich in der Nacht zurückkomme, brennt immer noch oder schon wieder Licht im Bad. Hm. Komisch.
Als dann am ersten Feiertag mittags das Essen auf Rädern einfach so vor der Wohnungstür steht, fange ich an, mir Gedanken zu machen. Vielleicht ist Frau K. aber auch weggefahren, hat das Licht vergessen und Essen auf Rädern nicht bescheid gesagt? Es dauert noch bis zum Abend, bis ich mich entschliesse, zu handeln. Ich klopfe an ihre Tür, klingele, klopfe. Mir scheint, als würde ich ein Geräusch aus der Wohnung hören. Klingele sturm. Mittlerweile kommt Herr V. aus dem ersten Stock vorbei, der auf Nachfrage Frau K. auch schon eine ganze Weile nicht gesehen hat (und mir den Eindruck vermittelt, dass das auch ganz gut so ist). Sprachs und verschwindet in den Abend.
Während ich also vor der Tür stehe und darüber nachdenke, wie ich die Tür aufbekomme, ob ich die Polizei und oder einen Schlüsseldienst rufen soll, höre ich nun deutlich aus der Wohnung eine leise Stimme: "Ich komme gleich, ich mache gleich auf, einen Moment". Die Stimme klingt nicht gut, brüchig, leise, heiser... Ich klopfe und klingele und spreche durch die Tür mit ihr. Nach einer Ewigkeit höre ich, wie innen eine Kette beiseite geschoben wird (soviel zum Schlüsseldienst) und der Schlüssel gedreht wird und endlich öffnet sich die Tür.
Mir schlägt ziemlich übele Luft entgegen, muffig, warm und irgendwie süsslich, aber auf eine unangenehme, körperliche Art. Vor mir steht Frau K., in einem verrutschten Morgenmantel, an dessem Kragen und Vorderseite getrocknetes Blut klebt. Frau K. schaut völlig unfokussiert, kann sich kaum auf den Beinen halten und ihr helles Haar ist auf der linken Seite ebenfalls blutbesudelt. Ach Du Scheisse. Ach Du Scheisse. Während ich Frau K. in ihre Küche begleite, erzählt sie die ganze Zeit, dass sie auf mich gewartet hätte, "da sind sie ja endlich", "sonst kommen sie nie so spät", "sie haben doch einen Schlüssel"... ich setze sie auf einen Stuhl, gebe ihr erstmal ein großes Glas Wasser zu trinken, versichere mich, dass sie im Moment stabil ist und rufe den Notarzt. Obwohl es mich einiges an Überwindung kostet, fasse ich sie an, gebe ihr das Gefühl, dass sie nicht alleine ist, streichele ihren Arm, rede mit ihr, sage ihr, dass gleich Hilfe kommt. Manchmal komme ich zu ihr durch, die meiste Zeit aber ist sie irgendwo anders und erzählt wirres Zeug. Ich bin froh als endlich der Arzt kommt und mir die Situation abgenommen wird. Während Frau K. in den Rettungswagen gebracht wird, fragt mich der Arzt noch etwas aus, wer ich denn sei und wie ich in die Wohnung käme und so... er hört sich meine Geschichte an, runzelt kurz die Stirn und ist dann weg. Im Gehen meinte er noch, dass sie wohl komplett ausgetrocknet sei und nicht mehr lange überlebt hätte.
Frau K. war wochenlang weg, und als ich sie das erste Mal danach traf, konnte sie sich nicht erinnern, was vorgefallen war. Viel später erzählte sie mir mal vorwurfsvoll, dass sie vom Zivildienstleistenden, der das Essen bringt, gefunden wurde, nachdem sie am Heiligen Abend im Bad ausgerutscht und mit der Schläfe auf die Heizkörperkante geprallt war. Vorwurfsvoll, weil ich das Gefühl hatte, sie war der Meinung, dass die Hausbewohner sie in ihrer Wohnung hätten sterben lassen. Ich habe ihr nie erzählt, dass ich es war, der sie gefunden hat. Warum auch. Ich wollte ihre Dankbarkeit nicht und irgendwie hatte ich das Gefühl, das wäre ihr auch richtig unangenehm gewesen.
Von da an ging es mit Frau K. bergab. Es dauerte nicht mehr lange, und sie war wieder im Krankenhaus. Wahrscheinlich ein Schlaganfall, denn danach sah ich sie nicht mehr ausserhalb der Wohnung und es ging ein Pfleger ein- und aus. Irgendwann wurde das wohl zu einer Vollzeitbetreuung, und anstelle von Frau K. sah ich nur noch Pflegeleute. Mit einer habe ich mich mal unterhalten, das war auch irgendwie deprimierend... eine junge Frau aus Ost-Vorpommern, die bei einem privaten Pfelgedienst angeheuert hatte für kleines Geld, es zum Kotzen fand, aber zu Hause keinen Job bekommen konnte... und nun ohne Freunde in einer fremden Stadt in der stinkenden Wohnung einer total verbitterten Frau saß.
Das Leben von Frau K. ging zu Ende, ohne dass es jemanden interessierte. Vollpflegefall in der eigenen Wohnung, abgeschnitten (schon seit Jahrzehnten) vom Rest (des Hauses? des Lebens?)... dann wieder Krankenhaus... dann wieder zu Hause... irgendwann war es so, dass ich nicht mehr wusste, ob sie noch in der Wohnung ist oder im Krankenhaus. Ehrlich gesagt - die meiste Zeit war mir das auch egal.
Vor ein paar Monaten stand ein Mann vor dem Haus, der auf alle Klingeln drückte, um in das Haus zu kommen. Er wiess sich aus als Mensch von Amtsgericht und wollte in Frau K.s Wohnung. Nachlassverwalter. Vom Amt eingesetzt, weil keine Angehörigen vorhanden. Frau K. war irgendwann Anfang des Jahres im Krankenhaus gestorben. Nachdem der Nachlassverwalter in der Wohnung war, klebte ein Siegel an der Tür. Monatelang.
Dann, letzte Woche, war das Siegel gebrochen. Und, wie gesagt - gestern abend wurde die komplette Wohnung und der Keller auf den Sperrmüll geräumt. Völlig unsentimental, völlig achtlos. Alles raus was keine Miete zahlt, quasi.
Dieser Haufen stinkendes Mobiliar ist also alles, was von so einem Leben übrigbleibt. Wenigstens einen letzten Zweck hat er noch erfüllt - mich zum Nachdenken gebracht. Mein eigenes, privates Memento Mori, da draussen im Regen.
Wird übrigens gerade in dem Moment, wo ich das hier schreibe, in den Sperrmüllwagen verladen.
3 Reaktionen zu “And then my friend, you die”
Sehr schön erzählte und traurige Geschichte. Von solchen Schicksalen gibt es eine ganze Menge. Alleine gewohnt, alleine gelebt, alleine gestorben. Traurig.
Uii, das hast Du aber schön aufgeschrieben. Es ist nicht wie im Fernsehen, das Leben geht nicht immer gut aus. Und wenn man nicht aufpaßt, interessiert sich plötzlich niemand mehr für Dich. Das Fegefeuer muss dagegen herrlich sein.
Sehr berührend geschrieben. Gerade erst in der FAZ gelesen, das Web 2.0 bewohnbar geworden ist...
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